Faszination des Augenblicks

von Benjamin Fiege

Die Regale in Klaus Binders Wohnung sind voll mit Büchern, Skulpturen im fernöstlichen Stil zieren die Ablageflächen. Kein Wunder: Der Künstler befasst sich intensiv mit asiatischer Philosophie und Kunst als Basis seines graphischen Wirkens. …
Der Fokus liegt auf der Zen-Malkunst. Diese unterscheidet sich von der traditionellen buddhistischen Kunst durch ihre Schlichtheit und Beschränkung auf einfache Medien wie Tusche, Papier und Bildmotive. Wegen der spontanen und freien Ausführung zuege dies von der spirituellen und der künstlerischen Reife des Malers. Der Augenblick ist dabei das entscheidende. Da die Fülle des Augenblicks aber nicht auf ein Bild übertragen werden kann und unfassbar ist, muss der Künstler „konzentriert weglassen“, reduzieren und es mit einem einzigen Strich zu Papier bringen.
Die Linie ist daher das zentrale Element seiner Arbeiten. Oft bestehen die Bilder nur aus einer einzigen Linie. „Im Idealfall ist das eine Bewegung“ meint er. Diese Idee stammt aus dem japanischen Bildkonzept des „Enso“. Der Lauf der Linie bildet dabei eine Kreisform heraus … . Ein Kreis, der kein Kreis ist. In diesem offenen Kreis manifestiere sich das „ch´i“ kosmische Energie.
Binder nennt seine Arbeit „Nichtskunst“. Das „Nichts“ präsentiert sich dabei als mehrdimensionales Konstrukt. Es beschreibt das Unkonkrete, das mit Worten unfassbare und nicht artikulierbare. Ein Bild zeige, was Worte nicht sagen könnten. Ein Bild sage, was es nicht zeigt, umschreibt Binder diese Kunst. Sie deuten etwas an, bleiben aber doch flüchtig. Daher findet man Rahmen bei Binders Bildern eher nicht. Die Bilder sollen den Eindruck erwecken, ein Ausschnitt des Unendlichen zu sein. Die Farben Schwarz und Weiß dominieren dabei. Doch auch Silber und Gold halten Einzug in die Bilder. Das Augenmerk des Wahl-Wormsers liegt dabei darauf, die Zen-Malerei und abstrakte westliche Kunst mit einander zu verbinden. „Eine VerBINDERung schaffen“, will der studierte Kunsterzieher mit Hang zum Wortspiel.
Methodisch nimmt der 59 Jahre alte Künstler Anleihen aus unterschiedlichen Techniken. Bauhaus-Ästhetik, Surrealismus und Zen-Malerei, um nur einige zu nennen. Auch bedient sich Klaus Binder bei einem Teil seiner …Bilder der von Jackson Pollock geprägten Technik des „drippings“. Dabei wird die Farbe oder der Lack direkt aus der Dose auf das Bild getröpfelt. Der Künstler berührt dabei die Leinwand nicht. Aus dem scheinbar unkontrollierten Chaos des Farbauftrags lässt sich bei näherem Betrachten doch eine wahrnehmbare Ordnung erkennen. Ein Bild kann oft mehrere Zentren haben. „Es geschieht alles spontan. Aber ich kann vorher natürlich planen, ob ich erst eine Grundierung mache und welche Farben ich nutze“, so der Maler. Er spricht dabei von einem provozierten Zufall.
So sind mittlerweile zwischen 2000 und 3000 Werke dieser Arbeiten entstanden. „Aber mindestens 20.000 habe ich wohl unvollendet verworfen. Die sind dann im Papierkorb gelandet“, schätzt der Kalligraf das Volumen seiner Werke ein. Ein großes Pensum, das den Schaffensdrang des Malers noch nicht ganz befriedigt: „Ich hätte natürlich Lust noch mehr zu malen. Aber zeitlich klappt das eben nicht immer.“
Um sich in Stimmung zu bringen, meditiert der Oberstudienrat erst für 30 Minuten, bevor er mit dem Malen beginnt. Worms ist dabei für ihn, der er ursprünglich aus Kaiserslautern kommt, ein hervorragender Ort zum Arbeiten: „Die Stadt ist ein guter Kraftpunkt. Hier geschieht erstaunlich viel. Es gibt hier gute Energien. Das ist für Aktionskunst natürlich nicht unwichtig. Ich bin gerne hier.“
Auch wenn das Schaffen eines Bildes ein individueller Prozess ist, malt ein Künstler auch immer irgendwie fürs Publikum. „Man will natürlich zeigen, wenn man etwas geschaffen hat, das man für gut befindet. Ein bild soll den Betrachter immer wenigstens für einen Moment faszinieren. Auch ohne zu wissen, was sich der Maler dabei gedacht hat.“

W1 / Das Magazin für Worms / September, Oktober, November 2006